Frontex zerschlagen – Festungen gehören ins Mittelalter
zur Situation von Geflüchteten in der EU
von Sofia Leonidakis, Kandidatin zur Europa-Wahl, Listenplatz 9
Vor kurzem kam ein junger Mensch aus Damaskus in die selbstorganisierten Beratungsstelle, in der ich aktiv bin. Mit Kriegsbeginn zog ihn das Assad-Regime in die Armee ein. Als ihm dort befohlen wurde, auf Demonstranten zu schießen verließ er die Armee zusammen mit anderen. Als Deserteur stand er dann auf der schwarzen Liste der Regierung und musste sofort das Land verlassen, weil ihm die Todesstrafe drohte. Er floh Richtung Türkei, schwamm durch den Grenzfluss zu Griechenland, übernachtete auf den Straßen Athens, wurde in Ungarn monatelang inhaftiert und misshandelt. Danach, so erzählte er, war ihm klar, dass die Situation für Geflüchtete fast überall besser sei als in Europa. Obdachlosigkeit, Haft, Schläge und Ungewissheit – und das mitten in Europa – waren schlimmer als die Lage in Ländern ohne Asylsystem. Die Fluchtgeschichte dieses Mannes zeigt, wie menschenverachtend die europäische Asylpolitik ist.
Menschen in Not werden nicht aufgenommen, sondern bekämpft
Seit der Jahrtausendwende sind mindestens 23.000 Geflüchtete an Europas Grenzen gestorben. 25 Jahre nach dem Fall der Mauer werden in Europa erneut die Mauern wieder hochgezogen: Zwischen Griechenland und der Türkei hat die EU einen riesigen Zaun voller Nato-Draht gebaut, gleiches gilt für die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla und die bulgarisch-türkische Grenze. Die Firma, die diese Zäune baut, verkauft sie sonst an AKWs oder militärische Sperrgebiete. Die EU macht sich zum Sperrgebiet für Migrant*innen, in denen sie offensichtlich eine große Bedrohung sieht.
Legale Einreisewege gibt es so gut wie nicht.
Einzige Ausnahme ist die Aufnahme Syrer*innen. Sie ist aber begrenzt auf 13.000 für die gesamte EU und an so viele Bedingungen gebunden, dass sich ihre Einreise teilweise um fast ein Jahr verzögert hat, obwohl die Versorgungslage katastrophal ist und schon Menschen in den Flüchtlingslagern im Libanon gestorben sind. Außer diesen wenigen und mit vielen Hürden legal Eingereisten, sind Menschen auf der Flucht gezwungen, „illegale“ Einreisewege zu benutzen. Die sind teuer und oft sehr gefährlich. Und sie kriminalisieren Flucht, indem Geflüchtete zu – im Frontexsprech – „illegalen Einwanderern“ gemacht werden.
FRONTEX: Die europäische Agentur zur Grenzabschottung
Die EU-Grenz“schutz“agentur Frontex ist dafür da, illegalisierte Einwanderung zu bekämpfen. Seit ihrer Gründung 2005 wurden ihr Budget, Personal und Kompetenzen deutlich ausgeweitet. Für FRONTEX und das Überwachungssystem EUROSUR gibt die EU jährlich rund rund 250 Millionen Euro aus. Frontex koordiniert Einsätze an den Außengrenzen, verhandelt Kooperationsverträge mit anderen Ländern, trainiert deren Grenzbeamte und organisiert Abschiebeflüge. Bei Frontex laufen Informationen aus allen verfügbaren Quellen der Grenzüberwachung zusammen: Von Satellitenüberwachung, Drohnen, Flugzeugen, Küstenradar, von Grenzpolizeien, paramilitärischen Einheiten und auch Geheimdiensten aus ganz Europa und sogar aus Libyen. Daraus erstellt Frontex seine so genannten „Risikoanalysen“, die die Fluchtbewegungen außerhalb der EU verfolgen und daraus Prognosen erstellen, an welchen Stellen der Außengrenzen ein besonders großes „Risiko“ der Einwanderung besteht. Auf dieser Basis werden dann die jeweiligen Länder informiert, damit sie die Grenze dicht machen können.
Die Aufgaben von Frontex wurden ausgeweitet, die kaum existierende parlamentarische Kontrolle hingegen nicht. So darf die Agentur seit 2011 eigenständig Kooperationsabkommen mit Drittländern verhandeln, zum Beispiel mit dem Ziel, libysche Grenzbeamte zu trainieren. Die sollen dann noch effektiver Fliehende am Verlassen des libyschen Territoriums hindern. Dass in Libyen Geflüchtete ohne Anklage und ohne zeitliche Begrenzung inhaftiert werden und in der Haft systematischer Misshandlung und Folter ausgesetzt sind, interessiert Frontex dabei nicht. Hauptsache, die Agentur kann auf eine Armada an Erfüllungsgehilfen zurückgreifen, die sofort einsetzbar sind, wenn Geflüchtete geortet werden.
Nationalstaatliche Grenzbeamte* gehen dabei bekanntermaßen auch rabiat vor, unterlassen verpflichtende Hilfeleistung, nehmen illegale Rückschiebungen vor oder greifen Geflüchtete direkt an. So zog die griechische Küstenwache im Januar dieses Jahres ein Flüchtlingsboot von der griechischen Insel Farmakonisi zurück Richtung Türkei und beschädigte es dabei so stark, dass es sank. 12 Frauen und Kinder ertranken. In der gleichen Region betreibt Frontex den Seeüberwachungseinsatz „Poseidon“. Im Februar schossen Grenzer der spanischen Guardia Civil auf Migrant*innen, die versuchten, schwimmend Ceuta zu erreichen. 15 von ihnen starben dabei, die übrigen wurden direkt wieder nach Marokko zurückgeschoben. In den letzten 25 Jahren sind auf dieser Weise mindestens 20.000 Menschen auf diesem Weg nach Europa im Mittelmeer ertrunken.
Diese so genannten Push-backs sind rechtswidrig, sie wurden aber sowohl von nationalen Grenzbehörden als auch von Frontex unternommen. Auch in Zukunft soll Frontex Geflüchtete direkt zurückweisen können. Wenn sie zum Beispiel in internationalen Gewässern aufgegriffen werden, darf Frontex sie nach dem Willen der europäischen Regierungen direkt dorthin zurückbringen, wo sie abgelegt haben. Eine Art legalisiertes Kidnapping also. Einzige Voraussetzung ist, dass dort nach Meinung von Frontex ihre Menschenrechte gewahrt bleiben.
Die Bewertung darüber müsste aus den nationalstaatlichen Behörden kommen und die interpretieren die Situation oft so, wie es ihnen gerade passt. Ein Beispiel dafür ist die Einstufung von Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und Serbien als sichere Herkunftsstaaten. Obwohl es zahlreiche Dokumentationen von systematischen Menschenrechtsverletzungen insbesondere von Roma in allen drei Ländern gibt, soll so die generelle Ablehnung von Asylanträgen und Abschiebungen noch leichter werden.
Abschiebezone EU
Auch innerhalb der EU finden massenhaft Abschiebungen statt: Da sich die Länder gegenseitig als sichere Drittstaaten anerkannt haben, ist laut dem Dublin-System nur noch der Staat für ein Asylverfahren zuständig, in dem die asylsuchende Person zuerst das EU-Gebiet betreten hat. Das bedeutet, dass Geflüchtete zum Beispiel aus der Bundesrepublik nach Italien abgeschoben werden, obwohl ihnen dort mit großer Wahrscheinlichkeit die Obdachlosigkeit droht. Oder dass sie nach Ungarn abgeschoben werden trotz der dortigen Gesetze, die erlauben, dass Geflüchtete bis zu 6 Monate inhaftiert werden können ohne die Möglichkeit, dagegen zu klagen.
Fluchtursachen bekämpfen, nicht Geflüchtete!
Eine Wende in der europäischen Asyl- und Grenzpolitik ist daher dringend nötig. Die Bewegungsfreiheit darf nicht länger nur für Europäer*innen, sondern muss für alle gelten. Das Asylrecht darf nicht länger willkürlich eingeschränkt werden. Stattdessen muss die EU Menschen in Not ohne Wenn und Aber menschenwürdig aufnehmen. Die tödliche Grenzabschottung muss durch legale Einreisewege beendet werden. Das Dublin-System gehört abgeschafft ebenso wie Frontex und die nationalen Grenzschutzeinheiten. Solange europäische Konzerne durch Agrar- und Rüstungsexporte, Fischerei oder Landgrabbing Fluchtursachen erzeugen, trägt Europa eine Mitverantwortung für massenhafte Vertreibung. Weltweit sind 45 Millionen Menschen auf der Flucht. Sie fliehen vor Hunger, an dem jedes Jahr 8,8 Millionen Menschen sterben. Sie fliehen vor Konflikten, die auch von der deutschen Rüstungsindustrie mit Waffenexporten im Wert von zuletzt 9 Milliarden Euro befeuert werden. Sie fliehen vor dem Klimawandel, der vor allem von den Industrieländern verursacht wurde. Trotzdem flüchtet nur jede fünfte Person in die reichen Länder. Selbst wenn es 30 oder 50 Prozent werden – mit einer gerechten Umverteilung des Wohlstandes wäre das locker machbar ohne einen Verlust an sozialen Standards. Noch besser wäre ein europäisches Verbot ausbeuterischer, armuts- oder kriegsfördernder Politik und Unternehmenspraxis. Dann hätte die EU den Friedensnobelpreis auch eher verdient.