Bologna oder wie lerne ich mich tot

Oma: Was willst du denn mal im Studium erreichen?

Studentin: 180 Credit Points und einen Masterplatz.

Dieses Gespräch aus dem heutigen Studienalltag hätte vor 15 Jahren in der BRD kein Mensch verstanden. Ganz einfach aufgrund der Tatsache, dass Begriffe wie Credit Points, Module und Modulfristen (ebenso wie Bachelor und Master) erst durch den am 19. Juni 1999 von allen EU-BildungsministerInnen institutionell beschlossenen Bologna-Prozess mit „Leben“ gefüllt wurden. In der beschlossenen Erklärung heißt es zu den Zielen dieses Prozesses neben vielerlei blumigen Worten ziemlich deutlich: Insbesondere müssen wir uns mit dem Ziel der Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Hochschulsystems befassen.“ Damit ist diese Erklärung im Kontext einer gesamtgesellschaftlichen neoliberalen Entwicklung innerhalb der EU zu sehen, welche die Ziele und Funktionsweisen von Bildung und Wissenschaft stark verändert hat. Während die europäischen BildungsministerInnen noch im Jahre 1988 (ebenfalls in Bologna) in der Magna Charta der Universitäten wenigstens festhielten, dass die Hochschulen „gegenüber allen politischen, wirtschaftlichen und ideologischen Mächten unabhängig sein“ sollen, ging es elf Jahre später dem entgegen darum, „die arbeitsmarktrelevanten Qualifikationen der europäischen Bürger ebenso wie die internationale Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Hochschulsystems zu fördern.

Was ist zwischen beiden Erklärungen passiert? Vor dem Hintergrund des Durchsetzens des neoliberalen Kapitalismus gegen den realexistierenden Sozialismus 1989/1991 wurde „Bildung“ als Abschnitt 1995 in das weltweite Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen (GATS) der Welthandelsorganisation aufgenommen. Sie sollte sich fortan – in Form der Hochschulen als konkurrierende Dienstleistungsunternehmen – auf dem Markt bewähren. Wissenschaft und Bildung wurden als Standortfaktor dafür gesehen, die EU „zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen“, wie es im Jahr 2000 in der Lissabon-Strategie des Europäischen Rates hieß. Vorangetrieben wurde dies maßgeblich von Akteuren wie dem European Round Table of Industrialists (einer Lobbyorganisation europäischer Großkonzerne) und in der BRD von der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft oder dem Centrum für Hochschulentwicklung der Bertelsmann-Stiftung.

Unter dem Schlagwort employability (Beschäftigungsfähigkeit) wurde mit Bologna von Oben versucht, das gesamte Studiensystem auf die Befriedigung von unmittelbaren Marktinteressen auszurichten. Studieninhalte wurden an ökonomischer Verwertbarkeit orientiert und die bevormundende Verregelung führte verstärkt dazu, dass Studierende, genauso wie Lehrende, vor allem zur Erfüllung von Anforderungen und zu Konformität erzogen werden.

Durch die Modularisierung des Studieninhalts und -verlaufs sollte ein Wissenskanon festgelegt werden, den Studierende zu pauken haben, statt eine selbständige, kooperative Suche nach Wahrheit zu ermöglichen. Die viel beschworene Vergleichbarkeit der Inhalte, Kurse und Abschlüsse innerhalb der EU führte durch die profilierungssüchtige Installierung etlicher Spezialstudiengänge real dazu, dass aufgrund der Regelungswut selbst der Wechsel von Bonn nach Köln unmöglich wurde, wie der Präsident des Deutschen Hochschulverbandes, Bernhard Kempen, 2009 in einem Interview erklärte. Die Dotierung aller Kurse mit Credit Points verstärkte die Entfremdung der Studis von den Inhalten ihres Studiums. Statt wirklich etwas lernen und damit die Welt verbessern zu wollen (Gebrauchswert) sollte es den Studis nur noch um die Sammlung von möglichst gut benoteten Credit Points (Tauschwert) gehen. Auf die Rolle und das Selbstverständnis der Studierenden hatte dies erhebliche Auswirkungen. Statt als gestaltende Mitglieder einer demokratischen Einrichtung sollten sie sich als zahlende KundInnen begreifen. Statt Erkenntnissuchende als sich für den Arbeitsmarkt selbst optimierendes Humankapital.

Die neoliberale Ideologie der undurchschaubaren und kollektiv-rational nicht steuerbaren Gesellschaft sollte also inhaltlich und organisatorisch auf das Studium übertragen werden. Frei nach dem Motto: Wenn alle nur an sich denken, ist an alle gedacht. Geregelt wird’s von der unsichtbaren Hand des Marktes.

Diese Ideologie ist aber spätestens im Zuge der großen Krise des finanzgetriebenen Kapitalismus 2008 durch zahlreiche soziale Kämpfe nachhaltig in Frage gestellt und diese Kritik in den Alltagsverstand integriert worden. Gesamtgesellschaftlich drückt sich das in anhaltenden Protesten (wie zuletzt in Spanien) und einem Erstarken der Linken (wie zuletzt in Griechenland) aus. Im Bildungsbereich steht für diese praktische Kritik am Neoliberalismus die deutschlandweite Abschaffung der Studiengebühren (Niedersachsen wird sie als letztes Bundesland zum nächsten Wintersemester abschaffen) und die breite Bewegung von Bildungsstreik und Audimaxbesetzungen. Als Linke müssen wir den Kampf an den und um die Hochschulen als Kampf um die gesellschaftliche Hegemonie gegen die angeschlagene neoliberale Ideologie begreifen. Das Problem besteht aktuell noch im Gefühl der eigenen Ohnmacht und der alltagspraktischen Zustimmung zu den kapitalistischen Verhältnissen. An den – seit 1968 – tendenziell gesellschaftskritischen Universitäten sollte dieser passive Konsens zum status-quo auch durch die Einführung des Bologna-Systems (besser) organisiert werden. Das positive Gegenbild zu dieser herrschaftskonformen Erziehung ist Emanzipatorische Bildung durch kritisch-wissenschaftliche Tätigkeit. „Mit ihr begreift sich der Mensch als sein eigener Urheber, versteht er, daß die Ketten, die das Fleisch aufschneiden, von Menschen angelegt sind, daß es eine Aussicht gibt, sie zu zerreißen.“ (H. J. Heydorn, Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft, 1979)

Oma: Was willst du denn mal im Studium erreichen?

Studentin: Emanzipation.

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