Wer eine Strategiedebatte führt, sollte sich zumindest im Umriss über den grundlegenden Begriff verständigt haben: Strategie – das sind Handlungsanweisungen und –richtlinien, diktiert von einem gemeinsamen Ziel, das sich wiederum aus der korrekten Erkenntnis/Kritik der Wirklichkeit ergibt und mit dieser übereinstimmt, soll sie denn richtig sein. Womit man schon auf ein offensichtliches Problem stößt: Eine solche Kritik, ein solches geteiltes theoretisches Fundament, das sich an Ansprüchen der Wissenschaftlichkeit messen lassen kann, findet sich in der Linksjugend nicht, entsprechend vielfältig, gegensätzlich und oftmals abstrakt sind die Ziele und Forderungen, die sich im Verband tummeln. Das gilt es zu ändern. Dazu ist es von entscheidender Wichtigkeit, das Ringen um die theoretische Einheit der Organisation zu eröffnen, aus der allein sich eine richtige gemeinsame, den objektiven Gegebenheiten angemessene Praxis ergeben kann. Die theoretische Schulung der Mitglieder hat hierbei nicht ein bloßes Anhängsel zu sein, das halt irgendwie dazugehört, letztlich nur zum Ansammeln assoziativer talking points dient und in erster Linie von der Realität losgelöste Selbstvergewisserung ist. Vielmehr sollte sie in einheitlicher Gestalt verbindliches Element einer zu etablierenden Mitgliederbetreuung werden und diese in ihrer Praxis anleiten.
All dem steht bisher ein weitverbreitetes Unbehagen im Verband gegenüber jedem umfassenden Bemühen um die Wahrheit, um eine einheitliche Position im Wege, ein Unbehagen, das viele Erscheinungsformen annimmt: Da wägt man beispielsweise die theoretische Auseinandersetzung gegen das „alltägliche“ politische Auftreten ab, ein quid pro quo, wie es nur aus einer denkbar falschen Auffassung von Kritik hervorgehen kann. Kritik, das ist die aus der Erklärung einer Sache hervorgehende Beurteilung, ob und inwiefern diese Sache den eigenen Interessen entspricht oder nicht (das ist eben die praktische Seite der Kritik). Nur dadurch ist es möglich, die von den Menschen laufend, eben „alltäglich“ artikulierten Unzufriedenheiten auf ihre wirklichen Ursachen zurückzuführen: den mittlerweile global herrschenden Kapitalismus – und auch nur so lässt sich in den beherrschten Subjekten des Kapitalismus, den Lohnabhängigen, der Wille erzeugen, diese Schädigungen ihres Interesses mitsamt ihren Ursachen aus der Welt zu schaffen. Somit fällt auch eben jene Gegenüberstellung von theoretischer Arbeit und praktischer Agitation. Letztere, die sich natürlich an den alltäglichen Lebenszusammenhängen der Menschen orientieren muss, kann erst richtig durchgeführt werden, wenn erstere korrekt ist.
Dass der Wille zur Überwindung dieser Verhältnisse in den Subjekten nicht vorhanden ist – staatliche Gewalt und materielle Not tragen dafür auch reichlich Sorge –, kann man unerhört finden; es ist ja auch ein gewaltiges Problem. Leider ist es aber vor allem eine Tatsache und, die Idealisten werden es kaum glauben, die Leute – von denen wir ja allemal etwas wollen – legen sich ihren Gehorsam auch noch mit lauter Gründen zurecht. Ideologischen, falschen Gründen sicherlich, aber das gilt es denen, die sie sich zu eigen machen, erst durch die richtige Erklärung der Wirklichkeit zu zeigen. Eine Notwendigkeit, der sich all jene linksradikalen Passagen dieser Strategiedebatte verweigern, die sich zum Beispiel eine größere „Begeisterung für die Zukunft“ auf die Fahnen schreiben. Das Eingeständnis, es „ginge ja auch anders“, ist in dieser Gesellschaft billig zu haben, und undenkbar scheint es den linken Freunden der Abstraktion „Zukunft“, dass die Menschen aus gewissen Gründen, die sie sich denken, bei diesen Forderungen nicht mitziehen.
Zumal: was sind das auch meist für Forderungen! Forderungen, in denen oft genug den Idealen bürgerlicher Sozialstaatlichkeit das Wort geredet wird, wenn nicht gleich die Kooperation mit und somit die Kapitulation vor den bürgerlichen Parteien gefordert wird – eine Position, die ebenfalls völlig vom Unverständnis gegenüber der Bestimmung des kapitalistischen Staates und seiner Spielräume gekennzeichnet ist. Der Staat legt seine lohnabhängige Bevölkerung mittels seiner Gewalt auf den Dienst am Eigentum allemal fest. Diesen Dienst macht er somit auch zur eigenen Lebensbedingung, die derart vom Erfolg der besitzenden Klasse abhängt, dass jedwede seiner sozialstaatlichen „Großherzigkeiten“ nur als die Reproduktion der Arbeiterklasse sichernde Vergemeinschaftung der Lasten ihres Elends auftreten kann und muss.
Bei allen Gegensätzen also, zwischen idealistischem Linksradikalismus einerseits und Sozialdemokratie andererseits – den beiden Blöcken, zwischen denen die Linksjugend zunehmend aufgerieben wird –, sind beide Positionen gekennzeichnet durch ihre völlige Gleichgültigkeit gegenüber der Wirklichkeit, deren Analyse dann auch oft durch bloße Schlagwörter wie „Neoliberalismus“ ersetzt wird. Darunter wird meist auch nicht mehr verstanden als: „Kapitalismus, nur halt irgendwie besonders scheiße“, wogegen dann auch nicht mehr gehalten werden kann als die nostalgisch aufgeladene, bürgerliche Lüge des früheren, durch den Sozialstaat gestifteten gesellschaftlichen Zusammenhalts.
Derartige Idealismen und Begriffslosigkeiten bringen notwendig die immergleichen Debatten hervor, in denen man einerseits überall Chancen für linke Politik wittert, die man einfach nur zu ergreifen braucht, andererseits aber doch ständig konstatieren muss, dass die Lage so kompliziert und schwierig sei wie lange nicht mehr. Zwei Aspekte, die als Abstraktionen von den realen Verhältnissen gegeneinander betont werde, bis jedwedes Resultat verwässert ist und in den ohnmächtigen Konjunktiv – überhaupt hat die radikale Linke eine ungute Vorliebe für den Konjunktiv – zusammenstürzt: Man müsste es einfach irgendwie besser machen! Zur Beseitigung dieser unfruchtbaren Wiederkehr des Immergleichen, in der natürlich die moralisch aufgeladene Mahnung an den längst zum Selbstzweck geronnenen Pluralismus immer wieder auftauchen muss1, ist folglich die eingangs bereits herausgearbeitete, gemeinsame Arbeit am Begriff notwendig, um die gemeinsame Praxis zu bestimmen. Hierzu gehört auch eine grundlegende Analyse der eigenen Stellung als sozialistischer Jugendverband, womit auch die Frage nach dem Subjekt, das man erreichen möchte, eng zusammenhängt
Sofern das Wort „sozialistisch“ noch irgendeine Bedeutung haben soll, ist unser Anliegen die Emanzipation der gesellschaftlichen Arbeit von den Fesseln der kapitalistischen Produktionsweise. Ein Ziel, wie es sich nur durch die Insassen dieser Produktionsweise umsetzen lässt, die daran ein Interesse entwickeln können – und das ist, wie bereits erwähnt, die Klasse der lohnabhängigen Arbeiter:innen, all jene, die nicht in der eigentumswirksamen Ausbeutung der Arbeit anderer ein bequemes Hilfsmittel für ihre Interessen zur Hand haben. Nun befinden wir uns in der misslichen Lage, dass eine politische, sich explizit gegen diese Verhältnisse richtende Arbeiter:innenbewegung, wie sie noch im 20. Jahrhundert bestand, nicht länger existiert. Dies ist unter anderem eine Auswirkung gelungener sozialstaatlicher Integration, die dazu führte, dass sich das Bewusstsein dieser Klasse höchstens trade-unionistisch äußert, also in Gewerkschaften, die noch dazu (und in Deutschland besonders) immer mehr zu den bloßen Vollstreckungsgehilfen des Kapitals in seinen immer neuen Maßnahmen zur Einsaugung rentabler Arbeit werden – mit dem traurigen Bewusstsein, wichtige Dienste für die „vaterländische Standortpflege“ in der Konkurrenz auf dem Weltmarkt zu leisten.
Wir stellen also die tragikomische Gestalt einer sozialistischen Organisation ohne Arbeiter:innenbewegung dar. Mit diesem Widerspruch richtig umzugehen, darauf kürzt sich unsere Aufgabe und damit auch diese gesamte Strategiedebatte, will sie eine langfristige Perspektive eröffnen, zusammen. Der Widerspruch äußert sich unter anderem in der vielbeklagten studentischen Prägung und der damit einhergehenden Zielgruppenferne unseres Verbandes. In den hiesigen Verhältnissen ist eine solche Prägung kein Wunder: Die Arbeiter:innenklasse ist nach dem Ende ihrer historischen Organisationsformen nicht länger in der Lage, revolutionäre Bewusstseinsarbeit in größerem Rahmen selbst zu institutionalisieren, zu perpetuieren und zu verbreiten, weshalb sich die Reste eines solchen Bewusstseins im vom unmittelbaren Druck der materiellen Produktion – natürlich nur relativ – abgelösten Sektor von Wissenschaft und Ausbildung sammeln.
All das ist Ausdruck einer objektiv ungünstigen Lage, noch verstärkt dadurch, dass das kritische Bewusstsein in diesem Sektor durchzogen ist von ideologischen Versatzstücken aus der bürgerlichen Wissenschaft. Die strategische Folgerung aus dieser Lage kann nur sein, die Anstrengungen der Organisation darauf zu richten, das in dieser Situation mögliche zu tun: Das ist, erstens, das Hinarbeiten auf eine Änderung dieser Umstände durch das Verbreiten von revolutionärem Bewusstsein in der Arbeiter:innenklasse mit dem Fernziel der Entstehung einer revolutionären Bewegung; und, zweitens, die Schaffung von hierfür günstigen Bedingungen.
Der erste Punkt ist nur durch massenhafte Agitation zu erreichen, deren Zweck es zu sein hat, Klassenbewusstsein zu schaffen – nach Engels verstanden als das Wissen der Arbeiter:innenklasse über ihre eigene objektive Lage im Kapitalismus (MEW 22, 232), weshalb die auf revolutionäre Praxis drängende Agitation inhaltlich auf der richtigen wissenschaftlichen Erkenntnis dieser Lage zu beruhen hat. Diese gilt es gemeinsam und breitenwirksam zu erarbeiten, anzueignen und zugänglich zu machen, wozu auch die Negation überkommener bürgerlicher Denkweisen, insbesondere aus der bürgerlichen Wissenschaft, zählt.
Hierzu ist die nötige Infrastruktur zu schaffen, was uns zum zweiten Punkt führt. Diese Infrastruktur lässt sich effektiv nur unter der richtigen Handhabe vorhandener Ressourcen aufbauen. Um von diesen möglichst viele zu erlangen, ist nicht nur ein strategisches Verhältnis zu den Politikfeldern in der Hochschule und anderswo notwendig – diese haben für uns insofern Relevanz, als sie Bedingungen kommunistischer Politik darstellen, die wir positiv beeinflussen müssen -, sondern auch eine richtige Verwendung all der Mittel, die bisher sinnlosem Aktivismus anheimfallen mussten. Ein Missverhältnis, das auf Dauer nur zur Frustration all jener Genoss:innen führt, die zum Zwecke der nachhaltigen Beseitigung der Kopflosigkeit unserer Praxis antreten und auf die Schaffung einer geeinten, kompetenten und schlagkräftig auftretenden Organisation hinarbeiten. Eine Professionalisierung dieser Kernangelegenheit geht notwendig mit einer Vereinheitlichung einher, was nicht nur den individuellen Zugang erleichtert, sondern auch typische Linksjugend-interne Konflikte, wie jenen zwischen Stadt und Land, zu beseitigen helfen könnte. Auch könnte endlich ein korrektes Verfahren im Umgang mit Bewegungen – die, wie jede Unmutsäußerung, eine Möglichkeit zur Intervention in unserer Sache darstellen – geschaffen werden. Die Notwendigkeit eines solchen Verfahrens zeigt nicht nur das blamable Agieren der vorwiegend mit Hochschulpolitik befassten Teile der Linksjugend, sondern gerade auch das bisherige, völlige Scheitern im Umgang mit der Klimabewegung. Die Fehler in der politischen Handhabe dieser Bewegung reichten vom generellen Ausbleiben irgendeiner Reaktion auf sie, über das unkritische Anschließen an ihre affirmativen Forderungen, bis hin zum üblichen Bewegungsidealismus, ihr von vornherein einen revolutionären Charakter zu unterstellen. Auch dies lässt sich nur durch eine richtige wissenschaftliche Beurteilung derartiger Bewegungen vermeiden.
Wir, der neugegründete Bundesarbeitskreis Realsozialismus, wollen nicht nur mit diesem Text dazu beitragen, die anstehenden Probleme der Linksjugend zu behandeln und diese von falscher Politik abzubringen. Das bei Marx und Engels noch – richtigerweise – vorhandene Selbstbewusstsein, man stehe mit der eigenen Politik auf dem Fundament der Wissenschaft, der richtigen Erklärung der Welt, ist der Linken beinah völlig abhanden gekommen. Überall in der Linken findet sich das bürgerliche, Ausbeutungsverhältnisse mystifizierende Denken. Nur logisch, dass man dann auch selten mehr als eine intuitiv-assoziative Ablehnung gegen diese Verhältnisse aufbringen kann – Stichwort „linke Erzählungen“! Dem wollen wir die kollektive Arbeit am Begriff, das Ringen um die Wahrheit und das Ziehen von verbindlichen agitatorischen Konsequenzen aus ihr, entgegensetzen. Es gilt, den ermüdenden linksradikalen Konjunktiv, man müsste an diesem und jenem Kritik üben, endlich einzulösen, zum Zwecke der Bildung einer revolutionären Bewegung. Immerhin ist uns der Aufbau des realen Sozialismus, die Überwindung bürgerlicher Verhältnisse, wie man unserem Namen entnehmen kann, ein ernstes Bedürfnis, das sich nicht im bauchgefühlgesteuerten Herumwerken an Ausbeutungsverhältnissen, in der bloßen Reaktion auf die Ereignisse und Ansprüche bürgerlicher Politik, erschöpft. Eine solche revolutionäre Bewegung kann es, so Lenin, nicht ohne eine ebenso revolutionäre Theorie geben. Zu dieser gehört für uns nicht nur die Auseinandersetzung mit den aktuellen Entwicklungen des Kapitalismus, sondern auch und vor allem die bereits bestehende reiche Tradition des wissenschaftlichen Sozialismus, dessen richtige Erkenntnisse wir herausarbeiten und für die gegenwärtigen Erfordernisse der Kritik aufbereiten möchten, sowie die durch den Mantel bürgerlichen Schweigens verdeckte Geschichte der internationalen Arbeiter:innenbewegung, deren Erfahrungsschatz unsere Strategie bereichern kann und sollte. Es gilt, eine Organisation zu schaffen, in der Theorie und Praxis – im Gegensatz zum bürgerlichen Verständnis – nicht zusammenhanglos nebeneinander existieren (und somit beide hinter das erforderliche Niveau zurückfallen), sondern sich vielmehr in dem dafür erforderlichen richtigen Rahmen gegenseitig informieren, als Einheit bestehen können. Schließlich ist die Überwindung des Kapitalismus eine praktische Frage, weshalb jede Theorie auf die Praxis abzuzielen hat, um sie in ihrem Umgang mit den Verhältnissen anzuleiten, soll sie nicht zum kopflosen Aktivismus um des bloßen Aktivismus Willen herabsinken; umgekehrt ist es die beständige Aufgabe der Theorie, die aus der Praxis gewonnenen Erfahrungen zu reflektieren, wissenschaftlich aufzubereiten und nutzbar zu machen. Erfahrungen, zu denen nicht nur diejenigen der in der BRD tätigen Kommunist:innen der Gegenwart zählen, sondern auch all jene, die in den Jahrhunderten des weltweiten Kampfes gegen den Kapitalismus gesammelt wurden.
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1. Dass der Pluralismus nicht nur – vernünftigerweise – am Anfang, sondern auch noch am Ende jeder Debatte steht, sollte doch schon ein Hinweis darauf sein, dass diese Debatten nicht wissenschaftlich geführt werden. Weder hat man ein einheitliches Verständnis vom jeweiligen Thema, noch sonst im Großen und Ganzen einen Plan, was man denn nun tun soll – der gebetsmühlenartig beschworene Pluralismus ist das theoretische wie praktische Eingeständnis hiervon.
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